Skip to content

Bürokratie und Dekadenz

Es ist schon viel Richtiges und Halbrichtiges über die Bürokratie gesagt worden. Zu dem Richtigen gehört – erstens - die Feststellung, dass es ohne ein Minimum an Bürokratie nicht geht und – zweitens – dass selbst ein Übermaß an Bürokratie nur durch Disruption und niemals durch langsame Reformen auf ein vernünftiges Level gebracht werden kann, andernfalls nimmt die Bürokratie trotz aller Lippenbekenntnisse immer weiter zu.

Der politische Pathologe kennt drei Arten von Bürokratie:
1. Die lästige aber gutartige Bürokratie. Ihr Hauptmotiv liegt in der Produktion von Verlässlichkeit, auch wenn sie nur verlässlich denselben Unsinn produziert, wenigstens darauf kann man sich verlassen. Sie wird geschätzt, weil sie in einer unsicheren Welt, Unsicherheit reduziert. Schließlich erfordern offene Situationen ständiges Abwägen, wohingegen bürokratische Regeln sofortige Antworten liefern. Weiter aktivieren Ungewissheiten Angstzentren im Gehirn, während feste bürokratische Prozeduren angstlösend wirken, so wie eine Packung Valium. Alles verläuft in geordneten Bahnen, das ist sehr beruhigend. Diese Art der Bürokratie zeichnet sich durch eine Mischung aus Rechtsförmigkeit, Rechtsstaatlichkeit und meritokratischer Rekrutierung (die Besten sollen zum Staat) aus. Rechtsförmig heißt hier: formsicher, aber nicht zwingend grundrechtsgebunden; rechtsstaatlich bedeutet: form- und inhaltstreu gegenüber Grundrechten. Das Paradebeispiel für eine solche rechtsförmige Bürokratie ist der preußische Staat bis zum Jahre 1918. Ein Beispiel für eine rechtsstaatliche Bürokratie ist Deutschland bis etwa zum Jahre 2008. Danach zeigte sich mit der Euro-Rettung, der Griechenlandhilfe und spätestens mit der Grenzöffnung von 2015, dass rechtsstaatliche Prinzipien im Zweifel politischer Opportunität zum Opfer fallen.
2. Die bösartig-effiziente Bürokratie
Die Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen wird hier auf ein abstraktes System von Regeln, Verfahren und Normen abgewälzt. Die bürokratischen Vernichtungssysteme des NS-Regimes und Stalins waren hinsichtlich ihres Primärzwecks, der Vernichtung und Ausbeutung von Menschen, schrecklich erfolgreich. Sie waren in ihrer unvorstellbaren Grausamkeit deshalb so erfolgreich, weil sie dem Einzelnen ermöglichten, sich nicht für sein Tun verantwortlich zu fühlen. Man befolgte ja nur Regeln, Gesetze und Dekrete, verfuhr wie einem geheißen und war schließlich nur ein Rädchen in einem mörderischen Getriebe. Verantwortung trägt in einem solchen bürokratischen System letztendlich niemand.
3. Die dekadente Bürokratie
Diese Form der Bürokratie ist Ausdruck einer dekadenten politischen Klasse. Ich zitiere hier aus meinem Buch ″Die Wurzeln des Politischen″:

″Die Dekadenz dagegen ist strukturell entscheidungsvermeidend. Sie kennt keine Katastrophe, sondern ein fortschreitendes Abflachen. Ihre Strategie ist das Verschieben, das Ausweichen, das Moralisieren anstelle des Urteilens. Sie will keine Konfrontation mit der Wirklichkeit, sondern Narrative, die diese überdecken. In der Dekadenz wird nicht gestritten im Sinne von diskutieren, sondern beschwichtigt oder diffamiert. In einem westlich geprägten modernen Staat läuft der Apparat weiter, aber sein innerer Zweck wird vergessen – oder in seiner Umkehrung weiterbetrieben. Der Verfassungsschutz schützt nicht mehr die Verfassung, sondern diejenigen, die sie aushöhlen. Die Judikative schützt nicht mehr das Recht, sondern jene, die das Recht für ihre Zwecke missbrauchen. Die Exekutive hat einen Plan, doch der besteht ausschließlich im eigenen Machterhalt. Die Legislative kontrolliert nicht die Exekutive, sondern folgt ihr. Die „Publikative“ kritisiert nicht mehr die Mächtigen, sondern Kritiker der Mächtigen. Die Wissenschaftselite urteilt nicht mehr nach dem Stand der Wissenschaft, sondern danach, was politisch von ihr gefordert wird. Die NGOs sind nicht mehr „Non-Govermental“, also staatsfern, sondern sind zu staatlichen Vorfeldorganisationen mutiert. Die Kirchen predigen nicht mehr das Wort Gottes, sondern reden dem Zeitgeist das Wort. Die Verwaltung kümmert sich weniger um das reibungslose Funktionieren des Staatsapparates, sondern funktioniert mehr als Zweck ihrer selbst. Die Abgeordneten sind nicht mehr allein ihrem Gewissen verpflichtet, sondern gewissenhaft gegenüber ihrer Partei loyal. Rituale und Gedenkfeiern finden immer noch statt, doch sie sind ihrer inneren Bedeutung entleert. Die Dekadenten mögen sich nach außen hin für die Allerbesten halten, doch tief in sich drin fühlen sie die Dekadenz und sie verachten sich deswegen insgeheim gegenseitig. Diese Verachtung wird auf den Staat und das Staatsvolk projiziert. Das ist keine neue Entwicklung, so wird beispielsweise kolportiert, dass Kaiser Caligula sein Lieblingspferd zum Konsul ernennen lassen wollte. Diese spezifische Verachtung ist einer der Gründe, warum wichtige Posten in staatlichen Institutionen und staatsnahen Unternehmen nicht mehr nach Befähigung und Kompetenz vergeben werden, sondern oftmals von Personen besetzt sind, die sich dafür gar nicht eignen. Ein anderer Grund besteht darin, dass man bestimmten Leuten, denen man sich aus irgendeinem Grund verpflichtet fühlt, Gutes widerfahren lassen will. Die Unfähigkeit und Inkompetenz dieses Personals unterminiert die Funktionalität des Gemeinwesens weiter.″

Diese Form der Bürokratie definiert sich über ihre Dysfunktionalität, sie schafft mehr statt weniger Unsicherheit. Das Positive an der gutartigen Bürokratie, also ihre angstbefreiende Wirkung (der Staat kümmert sich zuverlässig um alles, was wichtig ist), kehrt sich in sein Gegenteil um. Deswegen muss ein Staat mit solcher Bürokratie immer repressiver werden. Die normalen Bürger sollen mehr Angst vor ihm haben als vor realen Bedrohungen. Nur so lässt sich der Laden noch zusammenhalten.

Psychologie der Dekadenz
Warum wird ein Staatswesen dekadent?
Das liegt daran, dass die den Staat tragenden Eliten innerlich entkernt sind. Sie glauben an nichts mehr, sie tragen keinerlei Prinzipien in sich auch wenn sie äußerlich andauernd in hohem moralischem Pathos das Gegenteil behaupten. Es zählt nur noch der eigene unmittelbare persönliche Vorteil. Modern gesprochen, sie sind innerlich dekonstruiert. Das kann entweder zu einem langsamen Siechtum oder zu einem schnellen unvorhergesehenen Kollaps führen. Es kann aber auch – und das ist die Hoffnung – auf einen Epochenwechsel hindeuten. Alle drei Szenarien schließen sich gegenseitig keineswegs aus. Zur Frage des möglichen Epochenwechsels, möchte ich auf mein Buch verweisen: Die Wurzeln des Politischen.

Disclaimer: Das sind alles nur theoretische und fiktionale Gedanken, die mit realen Verhältnissen nichts zu tun haben. Ich will morgens ausschlafen können.

© Hansjörg Pfister, 2025

Trackbacks

Keine Trackbacks

Kommentare

Ansicht der Kommentare: Linear | Verschachtelt

Noch keine Kommentare

Kommentar schreiben

Standard-Text Smilies wie :-) und ;-) werden zu Bildern konvertiert.
Umschließende Sterne heben ein Wort hervor (*wort*), per _wort_ kann ein Wort unterstrichen werden.

Um maschinelle und automatische Übertragung von Spamkommentaren zu verhindern, bitte die Zeichenfolge im dargestellten Bild in der Eingabemaske eintragen. Nur wenn die Zeichenfolge richtig eingegeben wurde, kann der Kommentar angenommen werden. Bitte beachten Sie, dass Ihr Browser Cookies unterstützen muss, um dieses Verfahren anzuwenden.
CAPTCHA

Formular-Optionen